Zockende Mäuse in der Hirnforschung

Mackenzie Mathis, Professorin an der EPFL, erhält den Wissenschaftspreis Latsis für schlaue KI-Algorithmen in der Verhaltensforschung.

«Ich möchte verstehen, welche Vorgänge im Gehirn dafür sorgen, dass wir lernen und uns bewegen können.» So fasst Mackenzie Mathis ihre zentrale Forschungsfrage zusammen. Die Wissenschaftlerin arbeitet an der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Maschinellem Lernen und Ingenieurwissenschaften. Konkret bringt sie zum Beispiel Mäusen bei, ein Videogame zu spielen, und beobachtet ihre Gehirnaktivität und ihr Verhalten während des Lernprozesses.

Vor allem aber entwickelt sie Computeralgorithmen, mit denen die gewonnenen Daten analysiert werden können. Für ihre herausragende Arbeit wurde sie nun mit dem Schweizer Wissenschaftspreis Latsis 2024 prämiert. Diese Auszeichnung sei unerwartet gekommen, und sie fühle sich «sehr geehrt, ganz besonders, weil der Preis bisher an eine beeindruckende Reihe renommierter Forschender ging, womit die Messlatte hoch liegt».

Open-Source

Hohe Ansprüche an sich selber stellt Mackenzie Mathis aber nicht erst seit diesem Preis: «Wenn das Tool zur Beantwortung einer Frage fehlt, muss man nicht die Frage anpassen, sondern das nötige Tool entwickeln.» Dieses Credo hat ihre bisherige wissenschaftliche Laufbahn bestimmt: Einen Namen hat sie sich auf ihrem Gebiet durch die Entwicklung von Open-Source-Algorithmen gemacht, die auf künstlicher Intelligenz basieren und in den Neurowissenschaften eingesetzt werden.

Ein solcher KI-Algorithmus ist DeepLabCut, von dem sie 2018 die erste Version veröffentlichte. Er analysiert vielfältige Elemente in Tiervideos wie das Zucken der Schnurrhaare einer Maus, den Galopp eines Pferdes oder die Wellenbewegungen eines Aals. Die Software wurde von der Jury des Eric Kandel Young Neuroscientists Prize 2023 als «Durchbruch in den Biowissenschaften» bezeichnet. Bis im Sommer 2024 wurde sie mehr als 700’000 Mal installiert und leistet einen wertvollen Beitrag zum Forschungsgebiet.

Ein Fenster ins Gehirn von Mäusen

Doch die Forschung von Mathis soll über die Entwicklung von IT-Tools hinausgehen: «Die Menschen, die sie entwickeln, sitzen neben den Menschen, die sie benutzen.» Eine der zentralen Fragen, die ihr Team beantworten will, dreht sich darum, wie unser Gehirn sich in Echtzeit an Veränderungen in der Umgebung anpasst. «Wenn man einen Kaffee trinkt, ändert sich das Gewicht der Tasse mit jedem Schluck, weil sie weniger Flüssigkeit enthält. Doch wir nehmen das nicht aktiv wahr, sondern unser Gehirn passt die Muskelkraft an, ohne dass wir es überhaupt merken.» Noch beeindruckender ist diese Anpassungsfähigkeit beim Erlernen bestimmter motorischer Fertigkeiten oder im Sport.

Bei der Erforschung dieses Phänomens setzt die Wissenschaftlerin Mäuse ein, die genetisch so verändert wurden, dass sich die Aktivierung ihrer Neuronen beobachten lässt, und bringt ihnen bei, Videogames zu spielen. Die Nagetiere lernen, einen Joystick in Richtung eines bestimmten Bereichs zu steuern, wofür sie eine Belohnung erhalten, oder durch Virtual-Reality-Welten auf einem Bildschirm zu navigieren. Manchmal wird die Spielumgebung verändert, um zu sehen, wie die Mäuse reagieren, wenn zum Beispiel der Joystick plötzlich lockerer ist. Während ihrer Gaming-Sessions werden die Mäuse gefilmt und ihre Gehirnaktivität wird aufgezeichnet.

Maschinelles Lernen

An diesem Punkt kommen die Algorithmen für maschinelles Lernen ins Spiel, an deren Entwicklung Mackenzie Mathis mitwirkt. Für aussagekräftige Erkenntnisse müssen erstens die relevanten Signale aus der aufgezeichneten Gehirnaktivität herausgefiltert und zweitens quantifizierbare Daten über die genauen Bewegungen des Körpers, der Pfötchen und sogar der winzigen Zehen der Maus generiert werden.

Die Software DeepLabCut erfasst die Bewegungen der Tiere. Mit der Erweiterung von 2024, den «SuperAnimal»-Modellen, wird dies noch einfacher. Denn diese bieten automatisierte, standardisierte Analysen für Tierarten wie Mäuse, die in den Neurowissenschaften häufig eingesetzt werden. Die Ergebnisse sind robuster, und die Daten können von anderen Forschungsgruppen einfacher weiterverwendet werden.

Der nächste Schritt besteht darin, den Zusammenhang zwischen der Aktivität der Neuronen und den beobachteten Verhaltensweisen aufzuzeigen. Mit diesem Ziel vor Augen veröffentlichte die Forscherin mit ihrem Team 2023 den Algorithmus CEBRA zur Analyse der neuronalen Dynamik im Gehirn. Dieses mathematische Modell entschlüsselt Informationen aus dem Gehirn und kann die Daten verschiedener Tiere kombinieren. Die Forscherin und ihre Gruppe können damit zum Beispiel in Erfahrung bringen, was eine Maus sieht oder wohin sich eine Ratte bewegt, und zwar auf der Grundlage von Aufzeichnungen über die Aktivierung der Neuronen in ihrem Gehirn. «Zu einem späteren Zeitpunkt könnte dies die Grundlage für Neuroprothesen bei Menschen schaffen, die das Sehvermögen oder die Mobilität nach einer Verletzung wiederherstellen», hofft sie.

Neuronale Netzwerke

Während man inzwischen teilweise weiss, in welchen Hirnregionen wann Veränderungen auftreten, geben die genauen Mechanismen und die Art der beteiligten Neuronen weiter Rätsel auf. «In den Neurowissenschaften befinden wir uns sozusagen in einem Prä-Newtonschen Zeitalter», meint die Forscherin lachend.

Dank künstlicher Intelligenz verstehen wir inzwischen Netzwerke aus einigen hundert Neuronen etwas besser. Doch bereits bei einer Maus liegt diese Zahl bei 70 Millionen, es gibt also noch viel zu tun!» Was sie keineswegs abschreckt: «Für mich ist die Wissenschaft nicht nur ein Job, sondern mein Leben. Und das ist ein echtes Privileg.» Mit Begeisterung und künstlicher Intelligenz versucht sie daher Schritt für Schritt, die Komplexität biologischer neuronaler Netzwerke zu entschlüsseln.